Moderne Verkehrsmittel verkürzen den zur Raumüberwindung erforderlichen Zeitaufwand: gemessen in Zeiteinheiten 'schrumpft' der Raum. Zeitkarten stellen diese Wechselwirkung von Raum und Zeit kartographisch dar. In Zeitkarten sind die Abstände zwischen zwei Punkten auf der Karte nicht proportional zu ihrer räumlichen Distanz (wie bei topographischen Karten), sondern proportional zu den Reisezeiten zwischen ihnen. Diese Änderung des Kartenmaßstabs führt zu Verzerrungen der Karte gegenüber dem 'gewohnten' Kartenbild. Die folgenden drei Karten zeigen die 'Schrumpfung' des Raums durch den Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes zwischen 1993 und 2020 im Vergleich zur Basiskarte mit konstanter Geschwindigkeit von 60 km/h.
Die sechs nachfolgenden Zeitkarten machen das Schrumpfen des Raums durch die Eisenbahn zwischen 1840 und 2020 aus der Perspektive Dortmunds sichtbar. In allen sechs Karten ist Dortmund der Mittelpunkt. Jede Karte stellt den Bereich dar, der in dem angegebenen Jahr von Dortmund in einer Tagesreise erreicht werden konnte bzw. in der Zukunft erreicht werden kann. Die rote Fläche ist der Umriss des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen.
1840. Trotz Ausbau der Chausseen zu Anfang des 19. Jahrhunderts sind im Zeitalter der Postkutsche Reisegeschwindigkeiten von mehr als zwölf Kilometern je Stunde kaum zu erreichen. Aachen und Minden bilden die Grenzen des von Dortmund in einem Tag erreichbaren Gebiets. Alle weiter entfernten Städte können nur mit einem Übernachtungsaufenthalt erreicht werden. Vor allem im Süden bildet das wenig erschlossene bergige Sauerland eine Barriere zwischen dem Ruhrgebiet und Frankfurt.
1854. Die Karte zeigt die dramatische Ausdehnung des Dortmunder Einzugsbereichs durch die Eisenbahn. Nun sind mit den deutschen und holländischen Nordseehäfen die Hauptrohstoffquellen und mit den belgischen Industriegebieten und Berlin die wichtigsten Absatzmärkte der Ruhrwirtschaft in einem Tag erreichbar. Damit sind die Voraussetzungen für den Aufstieg Dortmunds als Industriestadt gegeben.
1910. Um die Jahrhundertwende ist das europäische Eisenbahnnetz vollendet. Als bedeutender Eisenbahnknoten liegt Dortmund im Herzen Europas. Die wichtigsten europäischen Zentren Paris, Wien und Berlin sind in weniger als einem Tag erreichbar, Skandinavien und England rücken näher.
1970. In den sechzig Jahren seit 1910 hat sich das europäische Eisenbahnnetz kaum verändert. Die Elektrifizierung und schnellere Lokomotiven bringen jedoch noch einmal eine Erweiterung des Einzugsbereichs von Dortmund. London, Stockholm und Mailand sind nun in einem Tag zu erreichen.
1997. Der Einzug des Eisenbahn-Hochgeschwindigkeitsverkehrs leitet eine neue Epoche der Kontraktion des Raums ein. Der Train à Grand Vitesse (TGV) in Frankreich und der Intercity Express (ICE) in Deutschland führen vielfach zu einer Halbierung der Reisezeiten, der neu eröffnete Kanaltunnel bindet das englische Bahnnetz an den Kontinent an.
2020. Die Ausbaupläne der europäischen Eisenbahnverwaltungen lassen weitere Beschleunigungen erwarten. Ein Netz von transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnen wird die Regionen Europas verbinden und bisher am Rande gelegene Regionen auf der iberischen Halbinsel, auf dem Balkan und in Osteuropa an das Herz Europas anbinden. Reisen mit den schnellsten Zügen ist mehr als zwanzig mal so schnell wie mit der Postkutsche. Europa wächst zusammen - auch ökonomisch und sozial?
Beitrag zur Ausstellung "Das moderne Dortmund - eine Schöpfung der Eisenbahn" zum 150-jährigen Jubiläum der Köln-Mindener Eisenbahn vom 16. Mai bis 17. August 1997 im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund.
Animationen:
Eine Tagesreise von Dortmund 1840-2020.
Eine Tagesreise von Berlin 1824-2024.
Weitere Informationen:
Lemke, M., Schürmann, C., Spiekermann, K., Wegener, M. (2005): Die europäische Dimension des Verkehrs. In: Mayr, A., Stadelbauer, J. (Hg.): Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland. Band 11: Deutschland in der Welt. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Spiekermann, K., Wegener, M. (1995): New time-space maps. In: Wyatt, R., Hossain, H. (Hg.): Proceedings of the 4th International Conference on Computers in Urban Planning and Urban Management, Melbourne. Melbourne: Department of Geography and Environmental Studies, University of Melbourne, Vol. 2, 353-365.
Spiekermann, K., Wegener, M. (1994): The Shrinking Continent: New Time Space Maps of Europe. Environment and Planning B: Planning and Design 21, 653-673.
Wegener, M., Kunzmann, K.R., Spiekermann, K. (1994): Wachsendes Europa - schrumpfender Kontinent. arch+ 122, 28-33.
Spiekermann, K., Wegener, M. (1994): New Time-Space Maps for Europe. Arbeitspapier 132. Dortmund Institut für Raumplanung, Universität Dortmund.
Spiekermann, K., Wegener, M. (1993): Zeitkarten für die Raumplanung. Informationen zur Raumentwicklung 7.1993, 459-487.
Spiekermann, K., Wegener, M. (1993): Zeitkarten für die Raumplanung. Arbeitspapier 117. Dortmund: Institut für Raumplanung, Universität Dortmund.